Psychotherapie, Psychiatrie und die katholische Kirche

Serie: Psychotherapie und Religion (1) – Katholische Kirche

Serie Psychotherapie, Psychiatrie und Religion – Interview mit einem Vertreter der katholischen Kirche

 

„Es braucht ein Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Professionalität“

 

Seelsorger arbeiten mit Menschen, werden oft bei kleinen oder großen Krisen oder in Zeiten einer Lebenswende aufgesucht. Doch wo endet Seelsorge, wo beginnt die Therapie? Welche Anforderungen stellen sich an den Seelsorger? Gibt es eine Verbindung zwischen abnehmender Religiosität und der Zunahme psychischer Erkrankungen? Im ersten Teil unserer Serie sprechen wir mit Christian Ott, Diplom-Theologe und u.a. Lehrbeauftragter für Pastoralpsychologie im Erzbistum Köln.

Christian Ott, Dipl.-Theol., Mag.(Psychologie), Supervisor DGSvLehrbeauftragter für Pastoralpsychologie im Erzbistum Köln, Diözesanstelle für pastorale Begleitung, Köln

Christian Ott, Dipl.-Theol., Mag.(Psychologie), Supervisor DGSvLehrbeauftragter für Pastoralpsychologie im Erzbistum Köln, Diözesanstelle für pastorale Begleitung, Köln

Zentrum: Gibt es in der katholischen Kirche ein Grundverständnis für psychische Erkrankungen? Wie würden Sie dies beschreiben?

Ott: Ich möchte es so sagen: Ein solches Grundverständnis auf breiter Basis wäre wünschenswert, in Ansätzen ist es auch schon vorhanden. Wir sprechen derzeit viel innerhalb der Kirche über Missbrauch – nicht nur den sexualisierten, sondern auch den im geistlichen Kontext. Das wirft viele Fragen an bisher selbstverständliches kirchliches Handeln und den Umgang miteinander auf, was ein guter Prozess ist. Dabei zeigt sich: Menschen, die seelsorglich gut arbeiten wollen, brauchen Basiskenntnisse über die Symptomatik psychischer Erkrankungen.

Auch wenn kirchliche Mitarbeiter selbst natürlich nichts diagnostizieren oder behandeln können und sollen, ist ja zu erwarten, dass psychisch erkrankte Menschen jeden Alters und aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten ihnen in ihrem Arbeitsfeld in Gemeinden und Einrichtungen begegnen werden. Sie sollten daher unterscheiden können, welches ungewohnte, auffällige oder auf den ersten Blick merkwürdige Verhalten eher der Individualität eines Menschen, einer psychischen Erkrankung oder etwa Nebenwirkungen von Medikamenten zuzuschreiben ist. Jemandem, der den Unterschied nicht kennt, wird es schwerfallen, das zu verstehen und auf eine gute Weise damit umzugehen.

Wenn man Anzeichen von Suizidgefährdung, Suchterkrankungen oder Traumatisierungen einfach übersieht, kann man eine Menge Schaden anrichten, ebenso bei psychotischen Symptomen. Da reicht das normale seelsorgliche Sprechen und Verstehen nicht aus.  Gerade religiöse Denk- und Sprechmuster eignen sich im Sinne von innerpsychischen oder psychosozialen Abwehrmechanismen, solange sie einfach nur „verwendet“ werden.

Es braucht ein Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Professionalität. Auch eine Zusammenarbeit mit den verschiedenen im Gesundheitswesen tätigen Professionen wäre sehr wünschenswert. Realistisch betrachtet ist es aber so, dass das Verständnis innerhalb der Kirche sehr unterschiedlich ausgeprägt ist – einige sind da sehr interessiert und bilden sich weiter, andere bleiben da eher abstinent. Hier sehe ich doch noch einigen Entwicklungsbedarf, den wir in der Ausbildung der Seelsorger bereits aufgegriffen haben. 

Zentrum: Wo hört Seelsorge auf, wo fängt Psychotherapie an?

Ott: Wenn ich auf die Unterschiede schaue, dann wäre Seelsorge zu beschreiben als Sorge um oder für das Leben der Menschen und zwar aus dem Glauben heraus, dass dieses Leben, so wie es gerade vorgefunden wird, einen Wert und eine Würde von Gott her hat. Diese hängen nicht vom Gesundheitszustand ab oder vom Grad einer Behinderung. Sie sind auch nicht an irgendein bestimmtes Verhalten gebunden und auch nicht an irgendeine Zugehörigkeit zu Religion oder Konfession. Aus christlicher Sicht lässt sich Mensch-sein und Person-sein nicht trennen.

Seelsorge ist aus diesem Verständnis heraus ein christlich motiviertes Geschehen, auch wenn darin nicht „religiös“ gesprochen wird. Seelsorge geschieht mit und für Menschen, nicht an ihnen. Sie ist ein Handeln, mit dem das Leben von Menschen in den Zusammenhang des Glaubens gestellt wird – das reicht von der alltäglichen Lebenshilfe in kleineren und größeren Krisen über den Zuspruch und die Begleitung an Lebenswenden (Geburt, Liebe, Erfahrungen von Schuld, Tod) bis hin zum Nachdenken über Glaubensfragen und dem gemeinsamen Beten. Und es umfasst längst nicht nur miteinander sprechen, sondern kann auch andere Formen des Handelns und Unterstützens, aber auch das schweigende und tröstende Aushalten umfassen.

Kennzeichen von Seelsorge ist dabei immer die „Offenheit nach oben“, also für eine Transzendenz, für die Frage nach dem Heil und der Spiritualität des Menschen, für die Gottesbilder, die Menschen in sich tragen. Für einen Menschen mit dem Focus religiöser oder spiritueller Bedürfnisse ist Seelsorge also eine gute Adresse, zumal Glaube nicht „gesund“, sondern eher „heil“ werden lässt.

Psychotherapie ist ein zeitlich umgrenztes Handeln von mindestens zwei Menschen mit komplementär angelegten Rollen, von denen einer professionell ausgebildet sein Handeln plant und reflektiert und der andere sich als erkrankt oder psychisch leidend definiert und ausdrücklich um Hilfe bittet. Die Ziele einer Psychotherapie sind entsprechend die Linderung und Beseitigung psychischen Leids und die Förderung einer Entwicklung bei den behandelten Menschen. Gemeinsam sehe ich bei beiden „Formaten“ die Zuwendung zum konkreten Menschen und seinen Lebensumständen, Beziehungen und Selbstbildern. Weder kann man Psychotherapie durch Seelsorge ersetzen, noch umgekehrt Seelsorge durch Psychotherapie; beide können sich aber sehr sinnvoll ergänzen, wenn die Anlässe und die jeweiligen Grenzen beachtet werden. 

Zentrum: Werden seitens der katholischen Kirche Einrichtungen für psychisch Erkrankte unterhalten oder unterstützt?

Ott: Ja, es gibt ganz verschiedene Einrichtungen; auf dem Gebiet des Erzbistums Köln, in dem ich mich besonders gut auskenne, reicht das vom seelsorglichen Angebot in Kliniken und ganzen Regionen, z.B. Seelsorge und Begegnung als Zentrum für die seelsorgliche Begleitung psychiatrieerfahrener Menschen und ihrer Angehörigen in Köln oder Raphael für das Gebiet des Bergischen Landes in Bergisch-Gladbach, Remscheid und Wuppertal oder Seelsorge;  über Beratungsstellen mit entsprechend ausgebildeten Fachleuten bis hin zu Kliniken in Trägerschaft von Ordensgemeinschaften oder des Bistums.

Ich selbst bin mit meiner Arbeit –neben einer Dozententätigkeit- Teil eines Beratungsteams für Mitarbeiter im kirchlichen Dienst. Hier wird vor allem Beratung in Form von Supervision, Organisationsberatung, psychotherapeutischer Krisenintervention vermittelt, um die Professionalität und Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitenden zu unterstützen und zu erhalten. Mitunter geht es dabei auch um die Vermittlung an niedergelassene Psychotherapeuten.  Dabei werde ich manchmal ein wenig sorgenvoll danach gefragt, wie die wohl damit umgehen werden, wenn man sich als „religiös“ outet. 

Zentrum: Gibt es aus Ihrer Sicht eine Zunahme von psychischen Erkrankungen vor dem Hintergrund, dass Spiritualität oder Religiosität in der Gesellschaft stetig abnehmen?

Ott: Grundsätzlich gehe ich, wie heute üblich, von einem bio-psycho-sozialen Verständnis psychischer Erkrankungen aus – die Zu- oder Abnahme von Religiosität, also der Bindung an eine bestimmte Religion, kann in solcher Sicht nicht völlig bedeutungslos sein, darf aber auch nicht überbewertet werden. Ohnehin geht es bei dieser Frage weniger um Inhalte, sondern um Bedeutungen der Religiosität für Menschen. Man muss in diesem Zusammenhang zwischen intrinsischer und extrinsischer Religiosität unterscheiden.

Intrinsisch motivierte Religiosität und deren konstruktive Bewältigungsformen wie z.B. die bewusste Auseinandersetzung mit Verlusten und den eigenen Anteilen bei der Entstehung von Krisen oder auch der Wahrnehmung göttlicher Hilfe und Unterstützung wirken Untersuchungen zufolge der Entstehung von Depressivität und Angsterkrankungen entgegen. Es gibt, wenn ich mich richtig erinnere, bereits mehr als 180 Studien zu diesem Zusammenhang. 

Eine eher extrinsisch motivierte Religiosität dürfte hier eher Probleme verstärken und Druck auf den Einzelnen aufbauen. Bestimmte Formen psychischer Erkrankung scheinen aber weniger bis gar nichts mit dem Maß an Religiosität zu tun zu haben – so sieht man intrinsische Religiosität heute eher als eine zentrale Ressource, die hilft, andere (personale, organisationale) Ressourcen der Person zu integrieren.  Spiritualität ist ein eher allgemeinerer Begriff, der weniger an eine bestimmte Religion gebunden sein muss, sondern auch in freien Formen vorkommt als Suche nach Ekstase, Kultivierung von Toleranz und Liebe, Lebensführung im Einklang mit der Umwelt etc. Das nimmt derzeit kaum ab, sondern verlagert sich weg von den Kirchen. In seiner Wirkung auf psychische Erkrankungen entspricht er der intrinsischen Religiosität. 

Zentrum: Glauben Sie, dass es neben dem Glauben an sich weitere Aspekte der Religiosität gibt, die Menschen dabei helfen, ein erfülltes und zufriedenes Leben zu führen und Krisen zu meistern?

Ott: Einer ist ganz sicher der Aspekt der Bindung an eine Gemeinschaft und die damit erfahrbare soziale Unterstützung. Andere bewegen sich auf der Ebene der primären und sekundären Kontrollüberzeugungen, des Kohärenzgefühls im Sinne der Salutogenese von A. Antonovsky, sowie der Bereitstellung bewährter Coping-Strategien für bestimmte Wechselfälle und Belastungen des Lebens. Schließlich versetzen der Glaube und die Glaubenspraxis Menschen in eine intensive Beziehung zum psychischen Korrelat der Gegenwart Gottes. Dies verstärkt alle psychischen Prozesse, welche den Selbstwert aufbauen und regulieren.

Zentrum: In der Psychiatrie werden Visionen häufig als Wahnvorstellungen gewertet. Halten Sie Visionen mit religiösem Hintergrund für nicht pathologisch, oder wie wäre aus Ihrer Sicht damit umzugehen?

Ott: Es gibt immer noch diesen alten Satz aus der Politik von Helmut Schmidt „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Das sehe ich anders; wer Menschen verstehen will, muss sich auch mit ihren inneren Bildern beschäftigen. Wie die Hirnforschung uns lehrt, sind innere Bilder Muster, die handlungsleitend werden können und gekoppelt sind mit Wahrnehmung und Körperhaltung. Wenn man das ernst nimmt, kann es zwar immer noch eine Unterscheidung zwischen der „inneren Welt“ eines Menschen im Sinne seines Erlebens und der „äußeren Welt“ im Sinne der gerade geteilten Wahrnehmung geben. Aber man kann dann nicht umhin, die Inhalte selbst eines Wahns wenigstens als Ausdruck innerer Bewegungen anzuerkennen. Entscheidend bei Visionen ist die Frage, ob und wie es Menschen gelingt, diese inneren Bilder in das Ganze der Person zu integrieren (anstatt sie abzuspalten) und auf diese Weise Kohärenz zu erfahren und Kraft zur Gestaltung des Lebens zu gewinnen.  

 

Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.

Christian Ott, Dipl.-Theol., Mag.(Psychologie) ist Supervisor DGSvLehrbeauftragter für Pastoralpsychologie im Erzbistum Köln, Diözesanstelle für pastorale Begleitung, Köln