Prof. Dr. Michael Utsch, Theologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des DGPPN-Referats „Religiosität und Spiritualität“, Wissenschaftlicher Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Serie: Psychotherapie und Religion (2) – DGPPN

„Kirche hat kein Copyright mehr auf Seelsorge“

… sagt Prof. Dr. Michael Utz, Leiter des Referats „Religiosität und Seelsorge“ bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Allerdings sollte sich die Therapie davor hüten existentielle Fragen zu beantworten. Er plädiert für eine religiös-spirituelle Anamnese und erarbeitet mit seinem Referat derzeit ein Weiterbildungs-Curriculum „Spirituelle Kompetenzen“, um die interkulturelle Kompetenz der Behandelnden zu stärken.

Prof. Dr. Michael Utsch, Theologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des DGPPN-Referats „Religiosität und Spiritualität“, Wissenschaftlicher Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen,

Prof. Dr. Michael Utsch, Theologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des DGPPN-Referats „Religiosität und Spiritualität“, Wissenschaftlicher Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Zentrum: Wo hört Seelsorge auf, wo fängt Psychotherapie an?

Utsch: Die Übergänge sind fließend und nicht genau zu markieren. Das hängt vom Seelenbegriff der ratgebenden Person ab. Streng wissenschaftlich orientierte Psychotherapeuten vermeiden den transzendenzoffenen, weiten Seelenbegriff und sprechen lieber von psychischen Funktionen. Immer mehr Patienten wünschen sich aber eine ganzheitliche Begleitung, die auf körperliche, psychische und spirituelle Bedürfnisse eingeht. Gute Psychotherapeuten nehmen auch die existentiellen Fragen und Sinnkrisen ernst und beziehen diese in die Behandlung mit ein.
Historisch sind Priester und Schamaninnen die Vorläufer wissenschaftlicher Psychotherapie. In der Antike waren spirituelle und rationale Lebenshilfe noch nicht voneinander getrennt. Philosophische Anleitungen zur Herstellung des seelischen Gleichgewichts waren die Psychotherapie des Altertums. Mit der Aufklärung brachen Heil und Heilung auseinander, und Psychotherapie und Seelsorge wurden zu Konkurrentinnen. Heute hat sich die Feindschaft zwischen beiden entspannt. In Krankenhäusern bezieht man gerne die Angebote der Klinikseelsorge mit ein. Denn die Seelsorge verfügt über wirkmächtige therapeutische Rituale, die nicht zu nutzen unprofessionell wäre
In einer multireligiösen Gesellschaft har die Kirche längst kein Copyright mehr auf Seelsorge. Allerdings sollte sich die Psychotherapie hüten, existentielle Fragen beantworten zu wollen. Dann wird der Therapeut zum Guru, und ein Heilverfahren wird zu einem Heilsversprechen aufgebläht. Psychotherapie und Seelsorge sollten deshalb deutlich voneinander unterschieden werden, weil sie in verschiedenen Settings stattfinden und andere Ziele verfolgt.

Zentrum: Religiosität bzw. Spiritualität können für Patienten eine wichtige Ressource sein, zugleich aber eine psychotherapeutische Behandlung erschweren. Welche Forderungen leiten Sie daraus ab?

Utsch: Die emotionale Tönung der Glaubens beim Patienten macht hier den entscheidenden Unterschied! Unverzichtbar ist deshalb eine religiös-spirituelle Anamnese. Für die Therapiezielplanung ist es wichtig zu wissen, ob und welche religiösen oder spirituellen Glaubensvorstellungen ein Patient hat. Die religionspsychologische Forschung belegt, dass der Glaube unter bestimmten Bedingungen krankheitsauslösend und symptomverstärkend sein kann, unter anderen Vorzeichen jedoch als große Unterstützung und Ressource dienen kann. Herauszufinden, ob bei einer psychischen Störung der Glaube Teil der Erkrankung, ein Teil der Lösung oder eine unabhängige Dimension ist, bedeutet für viele Psychiater und Psychotherapeuten in Deutschland eine große Herausforderung, weil diesbezügliche Weiterbildungen kaum angeboten werden und traditionell eine Scheu vor religiösen Themen in der Psychotherapie bestand, die erst in den letzten Jahren langsam weicht.

Zentrum: Wie kann die interkulturelle Kompetenz der Behandelnden gestärkt werden?

Utsch: Hier sind noch große Wissenslücken zu füllen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht Kultur als ein offenes, dynamisches System an Praktiken, Rollen und Wissen, das die Sprache, Religion, Spiritualität, Familienstrukturen, Lebenszyklen, familiäre Rituale und Gebräuche genauso wie moralische und legale Systeme umfasst. Anders als der in Deutschland verbreitete Diagnoseschlüssel ICD enthält das in den USA gebräuchliche DSM auch die Diagnose „religiöses oder spirituelles Problem“ (V 62.89). Hier werden religiös-spirituelle Konflikte erfasst, die ursächlich mit einer psychischen Störung zusammenhängen. In einer multireligiösen Gesellschaft sind kultur- und religionssensible Behandler gefragt die Sinnfragen und religiös-spirituelle Werten mit einbeziehen. Unser Referat arbeitet gerade an einem Weiterbildungs-Curriculum „Spirituelle Kompetenzen“, in dem die therapeutische Grundhaltung gegenüber Existenzfragen eingeübt wird und Grundlagen der Religionskunde vermittelt werden.

Zentrum: Gibt es Studien, welche die Bedeutung religiös oder spirituell motivierter Themen in der Therapie belegen?

Utsch: Systematische Meta-Studien weisen auf die Wirksamkeit religions-angepasster Therapiemethoden hin. Religiös-spirituelle Interventionen können offensichtlich bei bestimmten Störungen nachweisbare Effekte erzielen. Eine aktuelle Meta-Studie, in der 97 Einzelstudien ausgewertet wurden, belegt eine höhere Wirksamkeit von Behandlungen, wenn bei gläubigen Patienten ihre Religion oder Spiritualität mit einbezogen wird (Journal of Clinical Psychology 74/2018, 1938ff).
In einem amerikanisches Forschungsprojekt werden derzeit weltweit die Wirkungen psychotherapeutische Behandlungen untersucht, in denen die Religiosität und Spiritualität der Patienten integriert wurde. Auch in Deutschland, wo religiöser Glaube in Fachkreisen früher eher pathologisiert wurde, wird Spiritualität inzwischen zunehmend als eine Ressource angesehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat gerade 2,5 Millionen Euro für das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Resilienz in Religion und Spiritualität“ genehmigt. In drei Jahren will das Forscherteam, in dem Theologen, Kulturwissenschaftler und Philosophen gemeinsam mit Psychotherapeuten und Palliativmedizinern zusammenarbeiten, besser die Widerstandkräfte positiven Glaubens verstehen und in das öffentliche Gesundheitssystem mit einbeziehen.

Zentrum: Welche Kriterien würden Sie für den Umgang mit Religiosität / Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie vorschlagen?

Utsch: Maßgeblich sind hier die Bedürfnisse des Patienten. Deshalb sollte standartmäßig eine religiös-spirituelle Anamnese erhoben werden. Allerdings sind die fachlichen Grenzen einzuhalten, und vor einer esoterischen Unterwanderung der Psychologie ist zu warnen. Vor dem Hintergrund der Kontroversen um spirituelle Methoden in der Psychotherapie – Österreichs Therapeuten wurde das 2014 durch die Gesundheitsbehörde verboten – hat unser Referat ein Positionspapier erarbeitet, das von der DGPPN publiziert wurde. Die Stellungnahme geht von der Realität unserer multikulturellen Gesellschaft aus. Durch die Flüchtlingswelle steht Europa derzeit vor der großen Herausforderung, die Integration unterschiedlicher kultureller Prägungen und Weltbilder – insbesondere zwischen einer religiösen und säkularen Weltdeutung – zu bewältigen. Der konstruktive Dialog zwischen religiösen und säkularen Lebensformen ist dabei für eine pluralistische Gesellschaft zukunftsweisend. Es geht um die anspruchsvolle Gratwanderung, innerhalb der therapeutischen Beziehung verantwortungsvoll mit den Grenzen des therapeutisch Machbaren umzugehen. Andererseits dürfen spirituelle Ressourcen ebenso wenig vernachlässigt werden wie Probleme und Konflikte, die sich aus dem kulturellen, religiösen und spirituellen Hintergrund des Patienten ergeben.

Zentrum: Gibt es aus Sicht der DGPPN eine Zunahme von psychischen Erkrankungen vor dem Hintergrund, dass Spiritualität oder Religiosität in der Gesellschaft stetig abnehmen?

Utsch: Viktor Frankls Diagnose, dass die Menschen heute nicht mehr primär sexuell, sondern existenziell frustriert sind, halte ich für zutreffend. Religiöse und spirituelle Glaubenssysteme können Vorbild und Impulsgeber dafür sein, um zwei elementare menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, die eine säkulare Gesellschaft nicht beantworten kann. Wie können wir trotz unserer tief verwurzelten egoistischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemeinschaften zusammenleben? Und wie können wir unsere Endlichkeit, das ungerechte Leiden und den Schmerz aushalten, ohne zu verzweifeln? An diesen Schnittstellen können sich Psychotherapie und Seelsorge konstruktiv ergänzen, wenn beide ihre professionellen Grenzen einhalten. Glaubensüberzeugungen sollen aber offen für Kritik, Diskussionen und Respekt vor dem Fremden sein – Freiheit und Toleranz gegenüber anderen Standpunkten und Erfahrungen.

Zentrum: In der Psychiatrie werden Visionen häufig als Wahnvorstellungen gewertet. Halten Sie Visionen mit religiösem Hintergrund für nicht pathologisch, oder wie wäre aus Ihrer Sicht damit umzugehen?

Utsch: Religiöse Wahnvorstellungen von einer zukunftsweisenden spirituellen Vision zu unterscheiden ist schwierig aber möglich. Hier sind Feldkompetenz für die jeweilige Weltanschauung und eigene religiös-spirituelle Erfahrungen von Vorteil, um Krankhaftes zu identifizieren. Entscheidend für die Bewertung ist die Frage nach der gemeinschaftlichen Eingebundenheit der Idee und ihrer realistischen Umsetzung.

 

Hinweis: Das im Text erwähnte Positionspapier der DGPPN zu Religiosität und Spiritualität finden Sie im Internet unter https://www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2016/religiositaet.html

 

Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.

Prof. Dr. Michael Utsch ist Theologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des DGPPN-Referats „Religiosität und Spiritualität“, Wissenschaftlicher Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen