„Baustein auf dem Weg zu einer menschenwürdigen Psychiatrie“
Mit dem Berliner Manifest wurden unlängst Leitideen für eine menschenwürdige Psychiatrie entwickelt. Es beinhaltet fünf konkrete Punkte, „die im Prozess der ständigen Verbesserung der Hilfestrukturen als Leitsterne dienen können“, erklärt Initiator Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Jann E. Schlimme im Interview. Die Reaktionen auf das Manifest, an dem Betroffene, Angehörige und Profis aus allen Bereichen der psychosozialen Hilfe mitgewirkt haben, waren gemischt. Ohne es zu wollen wurden wohl auch wunde Punkte getroffen.
Zentrum: Sehr geehrter Herr Dr. Schlimme, Sie haben das Berliner Manifest für eine menschenwürdige Psychiatrie initiiert. Auf den ersten Blick lesen sich Ihre Forderungen wie Selbstbestimmung oder Transparenz als Selbstverständlichkeit. Was hat Sie dazu bewogen, das Manifest zu entwickeln?
Schlimme: In der Tat, Selbstbestimmung der Betroffenen hinsichtlich der Art und Weise, wie ihnen geholfen wird, Transparenz der Hilfestrukturen und Partizipation derjenigen am gesamten Prozess ihrer Begleitung und Behandlung klingt in unserer heutigen Zeit selbstverständlich. Leider ist es nicht selbstverständlich. Im Gegenteil sind wir in fast allen Bereichen der Hilfestrukturen immer noch ein ordentliches Stück davon entfernt. Ich nehme mich da in meiner Praxis nicht aus, auch wenn da sicher vieles gut läuft. Dennoch ist immer Raum für Verbesserung und diese Ideen, die wir in dem Manifest formuliert haben, dienen als Leitfaden in diesem Prozess, es jetzt in diesem Moment für diesen Betreffenden gut zu machen.
Zentrum: Aktuell läuft eine Petition für mehr Personal im Bereich der psychischen Gesundheit (https://www.dgppn.de/petition.html). Wie schätzen Sie die Auswirkungen des ärztlichen und pflegerischen Personalmangels im Hinblick auf eine menschenwürdige Psychiatrie ein?
Schlimme: Psychosoziale Hilfe ohne Helfer ist natürlich unmöglich. Aber einfach nur mehr Personal ist es auch nicht. Es geht schon um die Frage, welche Haltung haben diese Helfer? Was tun sie konkret? Wie werden sie eingesetzt? In welchen Strukturen arbeiten sie? Wenn ich viele Helfer habe, die zusammen Kaffee trinken und sich täglich auf eine gemeinsame, distanziert-paternalistische Haltung des „Wir wissen was gut für Frau/Herrn XY ist“ im Dienstzimmer einschwören, komme ich mit mehr Mitarbeitern auch nicht weiter. Meine Sorge bei dieser Petition ist, dass es im Hintergrund primär um die Sicherung der wirtschaftlichen Basis der Krankenhäuser geht. Dies zeigt sich ein Stück weit daran, dass es auch jetzt Kliniken und Abteilungen gibt, die es mit der aktuellen Mitarbeiterdichte gut machen. Die würden es mit mehr Mitarbeitern sicher noch besser machen. Darum bin ich überzeugt, dass wir primär über Inhalte reden müssen, und nicht über mehr Personal oder mehr Geld. Erst wenn wir das geklärt haben, kann es sinnvoll sein, sich zu fragen: Wie kriegen wir das hin?
Zentrum: Hat sich in den letzten Jahren in den Psychiatrien aus Ihrer Sicht nicht auch schon viel positives getan hat? So wurde in einigen Bundesländer das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) im Sinne der Patient*innen verschärft, Regeln für Zwangsmedikationen und Fixierungsdauer wurden teilweise angepasst, es gibt regelmäßige Kontrollen von PsychKG-Kommissionen.
Schlimme: Das stimmt, es hat sich viel getan. Die heutigen psychiatrischen Kliniken sind oftmals besser als ihr Ruf. Aber der Ruf wird nicht besser, wenn man sich alle Kritik verbittet. Ohne Selbstkritik kommen wir nicht weiter. Es geht ja hier nicht um Hochglanzprospekte oder Selbstbeweihräucherung. Im Gegenteil: Wir müssten dankbar sein für jeden kritischen Hinweis. Aber das scheint aus der Mode gekommen zu sein. Dies gilt offenbar auch für die Besuchskommissionen, die Sie ansprechen. Die sind nicht nur viel zu dünn besetzt, so dass sie die Einrichtungen ja höchstens einmal im Jahr besuchen können – und das auch nur in Teilen, also beispielsweise nur diese zwei Stationen der Klinik. Sondern deren Berichte landen oft genug einfach nur in Schubladen, oder sie kündigen sich mit viel Vorlauf vor ihrem Besuch an, so dass dann wenig Verbesserungsfähiges gefunden werden kann. Die Fehlerkultur im gesamten Bereich der Psychiatrie ist meiner Ansicht nach verbesserungsfähig. Und das beginnt mit Selbstkritik. Selbstkritik macht uns menschlich und tut gut. Offenbar haben wir das in den letzten Jahrzehnten der Selbstoptimierung vergessen.
Zentrum: Wer waren bei der Erstellung des Manifests Ihre Mitstreiter, wer sind die Unterzeichner?
Schlimme: Letztlich alle, die beteiligt sind: Betroffene zu allererst, aber auch Angehörige und Profis aus allen Bereichen der psychosozialen Hilfe.
Zentrum: Welche zentralen Inhalte hat das Manifest?
Schlimme: Wir haben ganz konkret fünf Punkte formuliert, die im Prozess der ständigen Verbesserung der Hilfestrukturen als Leitsterne dienen können. Es geht um Selbstbestimmung, ökonomische Absicherung der Betreffenden, Einbezug des persönlichen sozialen Netzes, Transparenz der Hilfestrukturen und Partizipation derjenigen um die es geht auf allen Ebenen, von der konkreten Praxis über die Lehre bis hin zur Forschung und Planung der Hilfestrukturen in diesem Bereich.
Zentrum: Forderungen werden gerne an der Realität geprüft. Welche Möglichkeiten bietet das Manifest zur Durchsetzung? Welche Impulse wären zB in punkto Finanzierung relevant?
Schlimme: Das Manifest ist kein Kochbuch. Es redet nicht über Rezepte, sondern über gutes Essen und was es ausmacht. Die Rezepte für eine menschenwürdige Psychiatrie liegen doch seit Jahren im Schrank. Wir haben in den letzten Jahren so viele Projekte und Sonderangebote auch in Deutschland ausprobiert. Es gibt so viele Beispiele im europäischen Vergleich, dass es mich immer wieder verwundert, dass wir hier in Deutschland in der Standardversorgung so wenig davon umgesetzt haben. Ich vermute, dass hier handfeste wirtschaftliche Interessen das Problem sind. Nehmen Sie den Bereich der stationären und ambulanten Versorgung im SGB V. Die Akteure sind als Konkurrenten im marktwirtschaftlichen Sinne konstruiert, müssten aber über ihre Sektorgrenzen hinaus miteinander kooperieren, um eine brauchbare Versorgung zu gewährleisten. Wie soll das gehen? Wenn ich einen meiner Patienten auf einer Station besuche, da er sich dort zur Krisenintervention befindet, mache ich das in meiner Freizeit. Wenn die Mitarbeiterinnen der Krisenstation zum Netzwerkgespräch ausrücken, wenn der Patient bereits entlassen ist, machen sie das ebenfalls in ihrer Freizeit. Es gibt viele, die machen das. Aber das kann angesichts wirtschaftlicher Notwendigkeiten nicht wirklich erwartet werden, obwohl es unter Therapiegesichtspunkten sinnvoll wäre. So könnte man das fortsetzen. Wir haben bergeweise wirtschaftliche Fehlanreize in diesem System, welches auf volle Auslastung getrimmt ist, um wirtschaftlich zu überleben. So bleibt am Ende natürlich immer weniger Zeit, um sich angemessen um diejenigen zu kümmern, um die es geht.
Zentrum: Wie waren die Reaktionen auf das Manifest?
Schlimme: Gemischt. Manchen war es nicht kritisch genug, sie vermissten beispielsweise die eindeutige Formulierung, dass viele Interventionen der heutigen Psychiatrie schädlich sind. Fixierungen, Schädigungen durch zu schnellen oder zu langen Einsatz von Psychopharmaka. Es gab aber auch viele, die Schwierigkeiten mit dem kritischen Ton hatten und sich beleidigt fühlten. Interessanterweise waren das oftmals namhafte Vertreter der klinischen Psychiatrie, die sich dann der inhaltlichen Diskussion gleich ganz verweigern wollten. Offenbar haben wir da wunde Punkte getroffen, ohne das zu wollen. Aber das kann man nicht immer vorhersehen.
Zentrum: Bitte ergänzen Sie den Satz: In 20 Jahren wird das Berliner Manifest für psychisch Erkrankte …
… hoffentlich ein Baustein auf dem Weg zu einer menschenwürdigen Psychiatrie gewesen sein.
Zentrum: Vielen Dank für das Gespräch!
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Jann E. Schlimme M.A. ist Psychiater und Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin, Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover und war viele Jahre als Oberarzt an verschiedenen Unikliniken in Deutschland und Österreich tätig. Er ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und im Beirat des Dachverbands Deutschsprachige Psychosenpsychotherapie (DDPP). Schlimme ist Autor zahlreicher Fachbücher, zuletzt „Die abklingende Psychose“ (2017) und „Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ (2018). Jann E. Schlimme beriet das Team Wallraff bei seinen Undercover-Recherchen in der Psychiatrie.
Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.
Das Zentrum für Psychische Gesundheit und Wohlbefinden
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