Psychiatrische Pflege in der Corona-Krise
„Sie brauchen ein hohes Maß an Agilität“
Die Corona-Krise stellt auch die psychiatrische Pflege vor neue Herausforderungen. Welche besonderen Anforderungen erfordert der Schutz von Patienten und Personal? Wie sieht es in anderen Versorgungsbereichen außerhalb der Kliniken aus? Antworten geben Dorothea Sauter, Präsidentin der Deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrische Pflege (DFPP) sowie Prof. Dr. Michael Löhr, Gesundheitswissenschaftler im LWL-PsychiatrieVerbund.
Zentrum: Wie kann insbesondere auf geschützten psychiatrischen Stationen der Schutz von Patienten und Personal gewährleistet werden?
Michael Löhr: Die Krise hat mehrere Dimensionen. Grundsätzlich gilt, dass auf einer psychiatrischen Station die gleichen präventiven und prophylaktischen Maßnahmen im Kontext von CoViD-19 gelten, wie vom Robert-Koch-Institut empfohlen. Die Schwierigkeit entsteht dann, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die krankheitsbedingt, kognitiv nur unzureichend in der Lage sind, sich an grundlegende Hygienemaßnahmen zu halten. Um das Risiko des Einschleppens des Virus zu reduzieren, ist zu empfehlen, die Stationsteams so aufzuteilen, dass die unterschiedlichen Schichten kaum Kontakt zueinander haben. Die Übergabe sollte so verändert werden, dass ein Face-to-Face Kontakt möglichst verhindert wird. Auch scheint es empfehlenswert, eine Gruppe von Mitarbeitenden in „Standby“ im häuslichen Umfeld zu haben, um bei einem erhöhten Ausfall an Mitarbeitenden vorbereitet zu sein. Das braucht aber erweiterte Vorbereitungen im gesamten psychiatrischen Krankenhaus. Das Ganze kann nur systemisch betrachtet werden und so Wirkung entfalten. Die Krise löst auch bei den Patienten und Mitarbeitenden einen erhöhten Bedarf an psychologischerUnterstützung auf. Die Nutzenden sollten über alle Schritte gut informiert werden. Es kann zu schwierigen psychologischen Situationen für Nutzende und Mitarbeitende kommen. Daher sollte das Krisenmanagement einer Klinik so ausgelegt sein, dass zu jedem Zeitpunkt die Akutversorgung und die ambulante Versorgung sichergestellt ist.
Die Arbeit von psychiatrischen Pflegefachpersonen ist emotional und psychisch auch im Normalbetrieb schon sehr belastend. Was sind aktuell besonders belastende Faktoren, welche Rolle spielt das erhöhte Gesundheitsrisiko?
Dorothea Sauter: In Krisensituationen offenbaren sich viele der Stärken und Schwächen von Personen wie auch von Systemen besonders deutlich. Aufgrund der Corona-Krise haben wir in den Kliniken viele Patienten sehr früh in ihren teilweise sehr problematischen Lebensalltag entlassen, tagesklinische Behandlung ist ausgesetzt. Zu Hause stehen den Betroffenen sehr viele Angebote für Ablenkung, für soziale Unterstützung, für fachliche Beratung und für die Tagestruktur nicht zur Verfügung. Vor allem diejenigen, die schon in normalen Zeiten keine ausreichenden Hilfen zur Lebensbewältigung bekommen, verschwinden jetzt in der Unsichtbarkeit. Derzeit müssen alle improvisieren und können erforderliche Hilfen nur in Ansätzen anbieten. Besonders die Pflege leidet hierzulande darunter, aufgrund schlechter Rahmenbedingungen eigenen fachlichen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können – dieses Leiden verstärkt sich natürlich in solchen Krisen immens. In den Kliniken verbleiben schwerkranke Patienten, für die Besuchersperren oder das Aussetzen von Gruppenangeboten und Gemeinschaftsaktivitäten eine zusätzliche Belastung darstellt. Prof. Löhr hat bereits erwähnt, dass hier zusätzlich viele herausfordernde Situationen entstehen.
Das aktuelle eigene Gesundheitsrisiko ist auch für viele Pflegefachpersonen eine zusätzliche Sorge. Hier ist natürlich der Infektionsschutz zentral, auch gute Informationen können spürbar helfen.
Zentrum: Gibt es in dieser besonderen Situation, in der auch Pflegefachpersonen höheren Belastungen und Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, besondere Unterstützungsangebote? Gibt es zusätzliche Supervisionen?
Dorothea Sauter: Alle Berufsgruppen in der Psychiatrie brauchen fortlaufend Angebote, damit Belastungen im Arbeitsalltag handhabbar sind – und alle Berufsgruppen brauchen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass die Arbeit sinnvoll und damit erfüllend ist. Supervision oder andere Formen strukturierter Reflexion sollte immer gegeben sein. In Abhängigkeitsbeziehungen muss die Reflexion des eigenen Handelns ein Standard für alle Akteure sein. Wenn in den Kliniken eine gute Reflexionskultur sowie Unterstützungsangebote für Belastungssituationen etabliert sind, dann brachen wir in dieser besonderen Situation keine neuen Zusatzangebote. Während aktueller Krisen kann kaum eine Reflexionskultur neu etablieren werden, da stehen andere Aufgaben im Vordergrund. Vermutlich werden viele Kliniken im Nachgang der aktuellen Krise erkennen, dass sie an dieser Stelle in künftig mehr tun müssen.
Michael Löhr: Da gebe ich Frau Sauter ganz recht. Allerdings braucht es in der aktuellen Situation eine Unterstützung von allen Führungsebenen. Die Leitung einer Station, einer Abteilung und der gesamten Klinik haben zurzeit viel Arbeit um mit den Sorgen und Ängsten der Mitarbeitenden gut umzugehen.
Zentrum: Was ist der Beitrag der Pflege, um die Krise zu meistern?
Dorothea Sauter: Psychiatrische Versorgung funktioniert nur multiprofessionell und es ist oft schwierig, den Beitrag einzelner Akteure auszumachen. Aktuell ist jeder wichtig, der Begegnungen und emotionale Nähe mit bedürftigen Patienten gewährleistet und mit ihnen den Tagesablauf gestaltet. Und der gleichsam Sorge trägt, dass Infektionsketten unterbrochen werden und die Distanzregeln eingehalten werden, trotz akuter psychischer Krisen, trotz vielleicht eingeschränktem Problembewusstsein bei manchen Patienten. Wichtig sind die Personen, die 24h/7 Tage auf der Station präsent und ansprechbar sind: die den Patienten Sicherheit vermitteln und Sorgen lindern, die kritische Situationen sofort erkennen und lösen, die rund um die Uhr die Bedürfnisse der Patienten befriedigen.
Diese genannten Aufgaben müssen alle leisten, aber es sind traditionellerweise vorrangige Aufgaben der psychiatrischen Pflege – daher dürfte v.a. das richtige Pflegehandeln sehr wichtig sein, um bedürftige Menschen gut zu begleiten und um die Krise zu meistern.
Zentrum: Was kann man jetzt schon aus der momentanen Krisensituation für Schlüsse für die Zukunft ziehen? Was sollte sich also in Zukunft ändern, damit auch psychiatrische Kliniken eine solche Pandemie gut oder besser meistern können?
Michael Löhr: Das gleicht der Frage nach der Weltformel. Wir befinden uns noch nicht am Ende der Pandemie und haben damit noch nicht alle Situationen durchlaufen, die es noch zu durchlaufen gilt. Auch wenn es schwer zu ertragen ist, es ist nicht alles planbar. Jedoch braucht es Menschen und Strukturen, die einen kühlen Kopf bewahren und in der Lage sind „out of the Box“ zu denken. Es braucht Flexibilität und eine Fehlerkultur, die diese zulässt und schnell aus Ihnen lernt. Sie müssen in der Lage sein, Lösungen, an denen lange und intensiv gearbeitet wurde, innerhalb von kürzester Zeit wieder in Frage zu stellen und neue Lösungen für neue Lagen zu entwickeln. Sie brauchen also ein hohes Maß an Agilität.
Zentrum: Wir haben über die Pflege in Kliniken gesprochen, wie ist es in anderen Versorgungsbereichen?
Dorothea Sauter: Ambulante psychiatrische Pflege leistet nachgehende Hilfe, sie ist jetzt wichtiger denn je. Denn gerade diejenigen Menschen die ohnehin mit besonderen Gesundheitsherausforderungen kämpfen müssen, sind aktuell besonders betroffen von der Einsamkeit, von wirtschaftlichen – vielleicht existenziellen Sorgen, von häuslichen Krisen, von mangelnder Tagesstruktur und fehlenden Angeboten. Auch hier verdeutlicht die aktuelle Krise die vorhandenen Defizite: Ambulante psychiatrische Pflege ist in Deutschland vielerorts gar nicht vorhanden, und sie wird oft restriktiv verordnet.
Aktuell öffnen viele Patienten aus Angst ihre Tür nicht mehr. Ärzte und Psychologen dürfen richtigerweise ihren Patienten Videobehandlungen oder Telefonate anbieten. Die psychiatrische Pflege muss das bei jeder Krankenkasse erst klären, ob telemedizinische Angebote refinanziert werden. Warum muss gerade für die Pflege unter den ohnehin erschwerten Umständen Hürden aufgebaut werden und warum sollen Pflegefachpersonen nicht imstande sein selbst einzuschätzen, ob telefonische Hilfen angezeigt sind?
Psychiatrische Pflege findet auch in gerontopsychiatrischen Heimen und in Einrichtungen der Eingliederungshilfe statt. Möglicherweise entstehen aktuell hier, in den Heimen, von der Außenwelt völlig abgeschnitten, die prekärsten Situationen. V.a. im Geltungsbereich des SGB XI treffen Distanz- und Hygiene-Regeln und Isolation auf sehr alte und chronisch kranke und oft kognitv einschränkte und teilweise auch auf sterbende Menschen.
Wir werden v.a. im Nachgang der Krise vieles zu besprechen haben. Erst dann werden wir sehen, was die psychosozialen Folgen der Kontaktbeschränkung bei hochvulnerablen Gruppen sind. Dann werden sich auch die vielfältigen aktuellen Versorgungsdefizite in der Breite offenbaren. Dann werden die Leistungen der Pflege hoffentlich Würdigung erfahren. Und dann wird hoffentlich diskutiert werden, dass die Pflege in Deutschland dringend ihre Potenziale ausschöpfen muss, damit eine angemessene Gesundheitsversorgung in Deutschland auch in Krisen gewährleistest werden kann.
Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.
Dorothea Sauter, MSc, RN; Krankenschwester, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im ZfP Südwürtemberg-Weissenau, Beauftragte für Pflegeprojekte im LWL, Präsidentin Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege. www.dfpp.de
Prof. Dr. rer. medic. Michael Löhr arbeitet als Gesundheitswissenschaftler im LWL-PsychiatrieVerbund und dem LWL-Klinikum Gütersloh in der Stabsgruppe für Klinikentwicklung und Forschung. Er ist Honorarprofessor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.
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