Spiele als therapeutische Materialien
In der Psychotherapeutischen Praxis von Melanie Gräßer trifft man weniger auf eine Couch, eher auf clever gemachte Spiele. Die Psychotherapeutin setzt diese erfolgreich in der Kinder- und Jugendtherapie, aber auch bei der Arbeit mit Erwachsenen ein. Warum dies funktioniert, welche Spielvarianten sie dabei einsetzt, und ob der Ansatz auch bei der Video-Therapie funktioniert, erklärt sie uns im Interview. Und klärt die Frage, ob sich auch Computerspiele im therapeutischen Kontext nutzen lassen.
Zentrum: Frau Gräßer, Sie setzen spielerisches Material im Umgang mit Patient:innen ein. Wie kam es zu dieser Idee?
Gräßer: Seitdem ich mit Patienten arbeite, suche ich Mittel und Wege, diese noch schneller und besser zu erreichen. Gerade bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hilft Reden nicht immer sofort weiter. Viele Kinder und Jugendliche sind anfänglich sehr verschlossen oder haben „keine Worte“ für die Dinge, die sie beschäftigen. Mir war schnell klar, dass ich nach Alternativen und individuellen Zugangsmöglichkeiten Ausschau halten musste. Dabei habe ich festgestellt, dass ich mit kreativen Materialien, Spielen und zum Teil auch witzigen kleinen Dingen einen guten und schnellen Zugang zu Kindern und Jugendlichen bekommen habe.
Diese ersten Erfahrungen habe ich dann recht schnell ausgebaut und auch bei meinen erwachsenen Patienten getestet. Auch bei Erwachsenen ließen sich kreative Materialien und Techniken sehr erfolgreich einsetzen, egal ob als Eisbrecher, Belohnung oder zum tieferen Einstieg in bestimmte Themen. Rückblickend auf 20 Jahre in meinem Job kann ich sagen, dass spielerische und kreative Elemente und das Lernen und Verstehen im Spiel leider immer noch unterschätzt werden.
Ich würde mich sehr freuen, wenn für die zukünftigen Kolleg:innen „spielerische und kreative Psychotherapiezugänge“ als festes Element in der Ausbildung integriert wären und dies nicht nur Bestandteil der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie-Ausbildung ist.
Zentrum: Welche therapeutischen Materialien bieten Sie an?
Gräßer: Die Bandbreite der Materialien ist in der Tat inzwischen recht breit. Hier eine kleine Übersicht:
• Karten mit Ressourcenübungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
• Karten mit kreativen Techniken
• Bild- und Wortkarten
• Skalen mit visuellen Analogskalen für ganz unterschiedliche Abfragen im therapeutischen Bereich von Gefühlen, über Belastung (für die Traumaarbeit/EMDR), Schmerzen und andere kreative Themenbereiche
• Tools-Bücher zum therapeutischen Malen und zur Ressourcenarbeit für Kinder und Jugendliche
• Toolsbücher zum therapeutischen Schreiben und zur Arbeit mit Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung
• Ein Würfelspiel für Therapie und Beratung
• Aufstellungskarten für die kreative Arbeit mit Familien und Systemen
• Ein Spiel speziell zum Thema Mut und Ängsten
• Ein weiteres Spiel zum Thema Depressionen
• Memo-Spiele zu Gefühlen und Ressourcen
In den kommenden Monaten wird es weitere spannende Spiele für die Therapie geben. Mehr darf ich gerade aber noch nicht verraten (schmunzelt).
Zentrum: Spiel klingt ad hoc immer nach Kind oder Jugendlichem – setzen Sie die Materialien auch bei Erwachsenen ein?
Gräßer: Natürlich! Mancher Erwachsenen-Kollege belächelt mich zwar manchmal deswegen, aber die positiven Erfahrungen mit den Patient:innen geben mir Recht, dass der Einsatz auch bei Erwachsenen funktioniert und durchaus zu schnellen positiven Ergebnissen führen kann. Auch nach Workshops oder Seminaren, in denen ich das Thema kreative Techniken gerne vorstelle und vermittle, habe ich von den Teilnehmer:innen später häufig positive Rückmeldungen erhalten, wie gut die kreativen Zugänge auch bei deren erwachsenen Patienten funktionieren.
So lässt sich der Einstieg in Themen, die die Kindheit von erwachsenen Patienten betreffen, oftmals deutlich leichter über kreative, spielerische und kreative Zugänge gestalten. Beispielsweise über das gemeinsame Betrachten eines Bilderbuches, in dem es z.B. darum geht, wie es einem kleinen Kind mit einer bestimmten Situation geht (z.B. dem Aufwachsen mit einem psychisch kranken Elternteil), da der erwachsene Patient ja zu dieser Zeit ebenfalls ein Kind war und sich häufig ganz schnell mit dem im Buch dargestellten Protagonisten identifiziert und so direkt an dem früheren Gefühl als Kind anknüpfen kann.
Hier meine drei Lieblingskinderbücher, die ich auch gerne bei Erwachsenen einsetze:
– Sonnige Traurigtage von Shirin Homeier
– Selina, Pumpernickel und die Katze Flora von Susi Bohdal
– Irgendwie anders von Kathryn Cave und Chriss Riddell
Zentrum: Wie reagieren die Patient:innen darauf? Kinder und Jugendliche mitunter anders als Erwachsene? Warum sind Spiele mitunter ein Eisbrecher?
Gräßer: Ein Spiel, vielleicht sogar im Erstkontakt, kann bei Kindern und Jugendlichen, die eigentlich gar nicht da sein wollen oder nicht formulieren können oder wollen, warum sie da sind, wunderbar als Eisbrecher fungieren. Kinder und Jugendliche sind häufig sofort „Feuer und Flamme“, Erwachsene reagieren zumeist erstmal etwas reserviert.
Bei Erwachsenen nutze ich in einem solchen Fall gern einen kleinen Kunstgriff und führe zum Beispiel Kinderbücher mit den Worten ein: „Ich weiß das ist jetzt ein Kinderbuch, aber Kinder verstehen das mit Hilfe dieses Bilderbuches sofort. Vielleicht schauen wir einmal gemeinsam, warum dieses Kinderbuch so gut funktioniert.“ Und ich habe tatsächlich auch schon erwachsene Männer bei Kinderbüchern weinen sehen und dann festgestellt, wie hilfreich das ein oder andere Kinderbuch sein kann.
Zentrum: Viele Ihrer Angebote stehen zum Download bereit. Wer greift auf die Materialien zu? Therapeuten oder auch Menschen ohne therapeutischen Background, die sich angesprochen fühlen?
Gräßer: Ein Großteil der Nutzer sind natürlich Psychotherapeuten, aber auch Pädagogen, Erzieher, Sozialarbeiter, Trauerbegleiter, Beratungslehrer, usw. Ich habe aber auch Rückmeldungen von Eltern, die sich das ein oder andere Malbuch gekauft haben und nun gemeinsam malen und zeichnen. Gleiches gilt für die Memos, die auch sehr viele Eltern nutzen.
Ich glaube, dass ein wichtiger Aspekt der Materialien auch die sehr liebevolle Illustration ist. Wir arbeiten sehr viel und gerne mit Annika Botved zusammen. Annika schafft es meist ganz einfach, genau die richtige Stimmung, Illustration und Figuren zu treffen.
Zentrum: Während Corona werden viele Therapiestunden online realisiert. Funktioniert da ein Spieleansatz noch?
Gräßer: Auf jeden Fall! Es gibt viele schöne kleine Spiele, die auch sehr gut während der Videosprechstunde funktionieren. Auf meiner Internetseite habe ich eine Sammlung von ganz vielen Spielideen von ganz leicht und ohne Materialien direkt umsetzbar bis aufwendiger, weil ein Spiel erforderlich ist, zum kostenlosen Download bereitgestellt:
Viele Tipps gibt es auch in unserer Facebookgruppe: Psychotherapeutische Spiele und kreative Materialien
Zentrum: Spielen heißt heute auch Computerspielen. Gibt es bei dieser Form des Spiels auch Ansätze für therapeutisches Material? Ist dies überhaupt sinnvoll?
Gräßer: Unbedingt! Seit vielen Jahren hat Frau Veronika Brezinka an der Universität in Zürich sich mit dem Thema des Einsatzes von Psychotherapeutischen PC-Spielen beschäftigt und diese großartigen Spiele herausgebracht: Schatzsuche, in dem es um grundlegende verhaltenstherapeutische Mechanismen geht und Ricky und die Spinne, ein Spiel zur Behandlung von Zwängen. Beide nutze ich schon sehr lang und immer wieder sehr gerne, sie treffen oft genau den Nerv von Kindern und Jugendlichen, weil sie an dem anknüpfen, was ihnen häufig viel Spaß und Freude macht: Computerspielen.
Gerade haben wir ein kostenloses elektronisches Tool entwickelt: www.mein-familienbrett.de. Es handelt sich um ein virtuelles Familien-/Systembrett, das sich von einem oder zwei PCs/Laptops/Smartphones gleichzeitig einsetzten und bearbeiten lässt und nicht nur in der Videoarbeit hervorragend geeignet ist.
Wir arbeiten gerade in unserem Team an einem Computerspiel gegen Ängste. Ein Videospiel wird aber nie das persönliche und fachliche Gespräch eines Therapeuten ersetzen können. Aber es kann ein guter Einstieg, eine gute Hausaufgabe oder auch Belohnung sein.
Denken Sie nur an 3D-Spiele, die von vielen Menschen lediglich als „Ballerspiele“ abgetan werden. Inzwischen aber nutzen immer mehr Therapeuten 3D-Brillen bereits sehr erfolgreich bei Konfrontationsübungen. Hier wird uns sicher in den nächsten Jahren noch einiges an tollen und kreativen Möglichkeiten erwarten, sei es als Spiel oder Software.
Ich freue mich auf jeden Fall mitten in diesem Geschehen drin zu sein und tatkräftig mit vielen engagierten und kreativen Kolleg:innen in dieser Richtung weiter zu arbeiten, zu entwickeln und zu forschen.
Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.
Hintergrund
Melanie Gräßer studierte Psychologie in Konstanz, Ontario/Kanada und Bonn. Sie ist Mitglied im Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen der Psychotherapeutenkammer NRW. Die Therapeutin hat seit 2013 eine eigene Niederlassung in Lippstadt und war zuvor u.a. als Psychologin in diversen Kinderkliniken aktiv. Melanie Gräßer ist Gutachterin für Krankenkassen sowie Prüferin im Rahmen der Staatsexamensprüfung zum Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Weitere Infos und Links zu den therapeutischen Spielen www.melanie-graesser.de