„An der Evidenz nicht mehr vorbeigekommen“
Die Evidenz psychotherapeutischer Behandlung bei Schizophrenie hat nun endlich dazu geführt, dass dieser Ansatz in die Leitlinien zur Behandlung der Krankheit aufgenommen wurde. Damit zieht Deutschland gleichauf mit anderen europäischen Ländern, wo dieser Ansatz schon länger genutzt wird. Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW erklärt die Hintergründe.
Zentrum: Sehr geehrter Herr Höhner, im März 2019 wurde die S3-Leitlinie „Schizophrenie“ der medizinischen Fachgesellschaften vollständig überarbeitet. Wozu dient diese überhaupt?
Höhner: Behandlungsleitlinien wurden vor dem Hintergrund entwickelt, dass Ärzte und Psychotherapeuten im Rahmen der Behandlungsfreiheit viele „richtige“ Behandlungen bei den verschiedenen Krankheiten und Störungen angewandt haben (und weiterhin anwenden) und die Patienten im Grunde keinerlei Möglichkeiten hatten, diese Behandlungsansätze zu bewerten. Auch waren die Krankenkassen im Rahmen ihres rechtlichen Versorgungsauftrages gehalten, nicht jede Behandlungsidee zu finanzieren. Man hat sich deshalb darauf verständigt, die Kriterien der wissenschaftlichen Evidenz für die sogenannten Behandlungsempfehlungen, letztlich die „Leitlinien“, zugrunde zu legen. Die Vertreter der Leistungserbringer (= Behandler) und der Leistungsfinanzierer(= Krankenkassen) einigen sich unter diesen Kriterien im „Gemeinsamen Bundesausschuss“, also dem höchsten Organ der Selbstverwaltung, darauf, welche Behandlungsleistungen zu Lasten der GKV zu erbringen sind. Und welche auch nicht!
Zentrum: Mithin sind die Leitlinien als Kompromiss anzusehen?
Höhner: Richtig, die Leitlinien sind immer ein Kompromiss aus der wissenschaftlichen Erkenntnislage einerseits und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen andererseits. Eine neue Behandlungsmöglichkeit muss danach über die vorhandenen Behandlungsansätze hinausgehend eine Erweiterung darstellen, also etwas Neues bieten. Dass sich hier die Geister scheiden können – was ist eine Erweiterung? – liegt auf der Hand.
Es kommt also regelmäßig vor, dass eine Behandlungsvariante nicht in den Leistungskatalog aufgenommen wird, weil deren Nutzen über die vorhandenen Behandlungsansätze hinaus nicht als gegeben angesehen wird. So ging es der Behandlungsmöglichkeit der Psychotherapie im Falle der Behandlung von Psychosen und Schizophrenien seit ca. 20 Jahren!
Zentrum: Warum hat man sich nun für eine Überarbeitung und Aktualisierung entschieden?
Höhner: Wissenschaftliche Evidenz über die Anwendung verschiedener psychotherapeutischer Verfahren und Methoden liegt schon sehr lange vor. Die Leitlinien z. B. in England, Norwegen, Finnland u. a. Ländern empfehlen die psychotherapeutische Behandlung bei schizophrenen Erkrankungen schon lange. Bei uns stand dieser Anerkennung immer die Behauptung entgegen, dass Psychotherapie keinen zusätzlichen Behandlungsnutzen erbringen würde – zusätzlich zu den Effekten der medikamentösen Ansätze. Dass die mittel- und langfristigen „Neben“-Wirkungen der pharmako-therapeutischen Behandlungen hier gravierend sind und dass es in der Regel nicht zu einer „Heilung“ (was immer das bei einer Schizophrenie ist) kommt, wurde im Wettbewerb der Interessen einfach „vergessen“. Letztlich war die Evidenz der psychotherapeutischen Behandlungen aber nicht mehr zu relativieren, so dass es auch bei uns zur Empfehlung der Psychotherapie in den Leitlinien gekommen ist.
Zentrum: Es geht bei der vorliegenden Bearbeitung also nicht unbedingt um bahnbrechend neue Ergebnisse in der Forschung?
Höhner: Richtig. Es gibt nicht die neuen Forschungsergebnisse, die zur Aufnahme der Psychotherapie in die Leitlinie Schizophrenie geführt haben. Man ist wohl – so meine vorsichtige Bewertung – an der Evidenz nicht mehr vorbeigekommen. Zumal medikamentöse Behandlungen, die üblicherweise jahrelang durchgeführt werden und wofür es keine Evidenz gibt, nicht preiswerter sind und die Langzeitschäden einfach nicht mehr wegdiskutiert werden konnten.
Zentrum: Was ergibt sich daraus konkret für einen Patienten mit Schizophrenie?
Höhner: Psychotherapeutische Behandlungen bei Menschen mit schizophrenen Störungen erfordern klinische Erfahrungen und Kenntnisse, sie erfolgen aber nicht grundsätzlich anders. Entscheidend ist – wie bei psychotherapeutischen Behandlungen immer – die Konstanz der Beziehung zwischenPsychotherapeut und Patient, um in Krisensituationen z. B. auch eine Klinikaufnahme im Einvernehmen veranlassen zu können. Die Behandlungskontinuität des ambulanten Psychotherapeuten auch während der Klinikaufnahme stellt m. E. die wesentliche Bedingung dar, um über eine psychotische Dekompensation hinweg die Behandlung fortführen zu können. Während einer psychotischen Krise sind psychopharmakotherapeutische Interventionen in der Regel erforderlich bzw. indiziert, mittel- und langfristig hingegen nicht!
Zentrum: Wann ist die nächste Revision der Leitlinie geplant?
Höhner: Die Leitlinien werden regelmäßig hinsichtlich ihrer Aktualität bewertet, so dass es immer wieder zu Revisionen kommt. Einen nächsten geplanten Revisionstermin gibt es in diesem Sinne nicht.
Zentrum: Herr Höhner, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Holger Crump für das zentrum für psychische gesundheit und wohlbefinden in Bergisch Gladbach unter der ärztlichen Leitung von Michael H. Lux.
Gerd Höhner ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Präsident der Psychotherapeutenkammer in NRW